Die Selbstherrlichen: Ein Milieu ergreift die Macht


Wenn man das Ergebnis der drei Landtagswahlen am 13. März resümieren will, kann man sagen, dass zwar keine neuen Regierungen gewählt wurden, aber eine neue Opposition. Das Volk will eine wirkliche Alternative zur Regierung hören. Es will einen offeneren, freieren Richtungsstreit. Und es will den Richtungsstreit nicht nur so hören, wie ihn das etablierte Parteienspektrum sieht. Es will sich selber ein Urteil bilden. Das Volk hat also mit der deutlich veränderten Zusammensetzung der Parlamente eine andere Art von Parlament gewählt. Es ist nicht falsch, von einer Aufwertung des Parlamentarismus in Deutschland zu sprechen. Das kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, dass die neue Opposition, die AfD, ihre Stimmen aus allen bisherigen politischen Lagern und vor allem aus dem Lager der Nichtwähler gewann.    
Ist das jetzt Konsens? Haben die Märzwahlen zu einer offeneren, freimütigeren Demokratie in Deutschland geführt? Weit gefehlt! In den Kommentaren und Talkrunden wird weiter die Geschichte von den „Rechtspopulisten“ erzählt. Man legt sich und dem Publikum das Wahlergebnis zurecht. Insbesondere will man nicht anerkennen, dass aus dem Ergebnis nicht „Angst“ sondern ein politischer Wille spricht, und dass er gute Gründe für sich in Anspruch nehmen kann. Die etablierten Parteien und „Parteienforscher“ führen vor laufenden Kameras Selbstgespräche über das Volk, „als ob es nicht zugegen wäre“ (Tocqueville über Frankreich vor der Revolution). Sie geben die Losung aus, dass die „demokratischen Parteien“ jetzt „miteinander reden“ müssen. Die AfD zählen sie ausdrücklich nicht dazu. So verwandeln sie die Demokratie der Bundesrepublik ganz offiziell in eine Blockparteien-Demokratie.
Jene infame Unterscheidung zwischen einem „hellen“ und einem „dunklen“ Deutschland, mit der sich Herr Gauck einen Platz in den Geschichtsbüchern verdient hat, soll nun erst recht durchgesetzt werden. Das geschieht vor dem Hintergrund eines Stimmenverlustes für die beiden Volksparteien des Landes, den man – bei aller gebotenen Vorsicht - als historisch bezeichnen kann. Es gilt nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern auch für die Christdemokratie – und das auch in einem ihrer Stammländer, das eine wesentliche Rolle bei der Gründung der Bundesrepublik gespielt hat: in Baden-Württemberg.

Die Zerstörung der Volksparteien wird in Kauf genommen

Dabei ist eine Präzisierung wichtig. Die Volksparteien sind nicht die Treiber und Träger der neuen formierten Demokratie. Am Werk ist vielmehr ein bestimmtes Milieu, das in CDU und SPD zur Macht gekommen ist. Dies Milieu hat für jene Positionierungen gesorgt, die zu dem dramatischen Stimmenverlust geführt haben. Wenn dieser Kurs nun auch nach den Wahlen ganz demonstrativ fortgesetzt werden soll, bedeutet das: Diese Milieus nehmen die Zerstörung von Christdemokratie und Sozialdemokratie in Kauf. Hier und da mit Bedauern, vielleicht. Aber auf jeden Fall wissentlich und damit billigend.
Deshalb ist es wichtig, dies Milieu, das sich anschickt, zur neuen herrschenden Schicht in Deutschland zu werden, in den Blick zu nehmen und es im Auftreten seiner führenden Repräsentanten zu identifizieren. Das heißt nicht, dass man dort unbedingt eine großangelegte und ausgetüftelte Strategie suchen sollte. Es könnte vielmehr sein, dass hier gar keine „Linie“ zu finden ist, sondern dass aus einem völlig inkonsistenten Hin und Her politischer Gesten am Ende des Tages nur eine eitle Selbstbestätigung dieses Milieus herauskommt. Ein Selfie halt. Der Bocksgesang von der „Politiker-Persönlichkeit“, auf die es nun angeblich ankommen soll, schwillt ja schon mächtig an. Das ist eine bemerkenswerte Wende des großen Welt-Rettungs-Diskurses: Er läuft immer deutlicher auf die Selbsterhöhung einzelner Politiker hinaus. Das Politische wird wieder zum persönlichen Eigentum. Was bleibt denn als politische Aussage der Talk-Runden übrig, wenn man die Schmähungen gegen die AfD einmal abzieht: Nur das TamTam um die angeblichen „Landesmütter“ und „Landesväter“. Und dieser Affenkult schickt sich an, die gestandenen Volksparteien der Bundesrepublik zu ersetzen, die ja früher einmal durchaus glaubwürdige Treuhänder der öffentlichen Angelegenheiten waren.

Eine Kanzlerin im Zustand der politischen Entrückung

Auf ihrer Pressekonferenz zum Wahlausgang am Montag im Konrad-Adenauer-Haus hat Frau Merkel mitgeteilt, sie werde „ihren Kurs nicht ändern“. Aber was ist eigentlich „der Kurs“? Das wird vorsichtshalber gar nicht mehr konkret gesagt. In der Migrationskrise besteht die Regierungspolitik darin, die Grenze nicht ausdrücklich zu schließen (das „freundliche Gesicht“ lässt grüßen) und de facto von den (unfreundlichen) Grenzschließungen anderer europäischer Staaten zu profitieren. Wie will eine deutsche Regierung mit dieser Doppelzüngigkeit zu einer europäischen Lösung kommen? Die Kanzlerin hat im Grunde gar keine politische Vorstellung von einer Lösung, sondern gefällt sich nur in der Verbindung der Worte „Europa“ und „Lösung“. Es klingt ja so gut.       
Es ist bezeichnend, dass sich Merkel auf der Pressekonferenz der Aufgabe entzog, Konsequenzen des Wahlausgangs für die Arbeit der Regierung zu benennen. Sie erklärte, „nur als Parteivorsitzende“ sprechen zu wollen. Und dann, geschützt vor genaueren Nachfragen, gab es einen schmallippigen, eher beiläufig hingeworfener Merkel-Satz: Sie könne nicht „mit einer Obergrenze kommen“, wenn sie mit der Türkei verhandele. Der Satz verrät viel. Für das von Merkel ins Spiel gebrachte EU-Türkei-Abkommen lehnt Merkel jegliche rote Linie, die nicht überschritten werden darf, ab. Das Migranten-Tauschgeschäft, auf das sich die EU-Mitgliedstaaten einlassen sollen, ist zahlenmäßig völlig unbegrenzt. Ein völlig offener Marktplatz wird eingerichtet. Alles hängt vom Gang der Ereignisse und von Einflussgrößen ab, auf die niemand in Europa einen Zugriff hat – weder auf die Zahl der andrängenden Migrantenströme noch auf die Grenzüberwachung durch die türkischen Behörden.

Moralische Großaussagen statt einer Erklärung

Damit wurde auch deutlich, was Merkel für den kommenden EU-Gipfel anstrebt: ein „offenes“ Verhandlungsmandat ohne jede Festlegung, zugleich die Verhinderung jedes Beschlusses über einseitige Grenzmaßnahmen der EU. Bei ihrem Auftritt vor dem Bundestag am Mittwoch drückte sich die deutsche Kanzlerin vor einer eindeutigen Erklärung, auf welcher Seite sie bei den Grenzschließungsmaßnahmen auf der Balkanroute steht. Feiges Schweigen. Aber dann die moralische Großaussage, dass Europa sich bei der Aufnahme von Migranten kleinlich verhalte. Damit stellt sie all jenen, die an der mazedonischen Grenze zündeln, ein Merkel-Wunder an der Balkanroute in Aussicht. Natürlich sagt sie das nicht ausdrücklich, aber sie lässt es wissentlich offen. Sie weigert sich, ihre Anordnung, an der deutschen Grenze all diejenigen durchzulassen, die sich als „syrische Flüchtlinge“ präsentieren, zurückzunehmen. Konkret heißt das: Weiterreichung an die deutschen Bundesländer und Kommunen, mit täglich wachsenden Belastungen und Gefahren für Deutschland. Aber das ist nicht ihr „Thema“ – sie steht ja gar nicht mehr in diesem Land, sondern ist ihm entrückt.
Die März-Wahlen in Deutschland haben offenbart, dass diese Gleichgültigkeit, die Angela Merkel gegenüber den Belastungen Deutschlands (und anderer europäischer Länder) an den Tag legt, auch gegenüber der Christdemokratischen Partei gilt. Auch diese Partei steht auf der Liste der Dinge, die den „moralischen Imperativen“ im Zweifelsfall zu opfern sind. Zu Recht fragt Berthold Kohler in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.März): „Kennt die Kanzlerin von nun an keine Parteien mehr, sondern nur noch Unterstützer ihrer Politik in der Flüchtlingsfrage?" Und Kohler fährt fort: „Den Eintritt in dieses Stadium der Entrückung kann selbst sie sich nicht leisten.“ Stadium der Entrückung – das ist sehr treffend geschrieben.

Ein parteiübergreifendes Milieu ergreift die Macht

Doch die Annahme, dass Merkels Entrückung nicht durchzuhalten ist und gleichsam von selbst wieder auf den Boden der Realität zurückfallen wird, ist irrig. Hier findet mehr statt als der Ego-Trip einer Kanzlerin. Das große „Ich“ aus dem Merkel-Satz „Ich kann nicht mit einer Obergrenze ankommen“ appelliert an ein ganzes Milieu, an einen ganzen Macht-Komplex der Gesellschaftssteuerung, an eine herrschende Schicht, die längst in den etablierten Parteien ihre Netzwerke gebildet hat. Dies Milieu ist jetzt angetreten, um nach den März-Wahlen zu zeigen, dass es sich selbst über eine Mehrheitsposition in der Bevölkerung (gegen die Politik der offenen Grenze) hinwegsetzen kann. Die Dreistigkeit, mit der in Deutschland in diesen Tagen das Weiter-So organisiert und inszeniert wird, hat man in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gesehen.
Und wie sich die verschiedenen Milieu-Abteilungen blind verstehen! Wie sie ganz unabhängig voneinander die gleichen Formeln finden und die gleichen Fragen (nicht) stellen. Das schafft keine Verschwörung. Das ist ein größeres Ding. Man konnte ja in dieser Woche beobachten, wie alle möglichen Leute sich sofort auf „die Koalitionsfrage“ warfen. Als hätte Deutschland nichts Wichtigeres zu entscheiden. Die Regierungsbildung wird schwierig, ist zu hören, wobei „schwierig“ irgendwie gruppendynamisch verstanden wird. Der Fernseh-Zuschauer soll sich damit befassen, ob es richtig ist, als Juniorpartner in eine Koalition einzutreten. Ob man vielleicht in Baden-Württemberg durch eine grün-schwarze Koalition schon ein Modell für den Bundestag nach 2017 basteln kann. Er soll sich auf die völlig inhaltsfreie Frage einlassen, ob es zwischen CDU und CSU „zu viel Streit“ gegeben hat – was dann prompt von einem „Experten“ mit der Formel aller Ahnungslosen beantwortet wird - dass Streit immer schlecht sei. Weil das angeblich den Menschen nicht gefällt. Darüber, dass es ihnen nicht gefällt, werden die Menschen informiert. Öffentlich-rechtlich, versteht sich. So beißt sich die Katze ordentlich in den Schwanz.

Zeit kaufen und Problem verschieben

Es gibt offenbar ein beträchtliches und einflussreiches Milieu, das allen härteren Sachproblemen „entrückt“ ist und bestens davon leben kann, wenn alles in der Schwebe gehalten wird. Das ist die Welt, in der sich der gemeinsame Kern der neuen, überparteilichen Demokratie zusammenfindet. Dieser Kern hat in der Figur Merkel tatsächlich ihre passende, partei-überschwebende Kanzlerin gefunden. So wie Merkel sich im Laufe ihrer Kanzlerschaft noch jeder Stunde der Wahrheit entzogen hat, ist das ganze Milieu unterwegs. Überall, wo es an die Führung gelangt – ob in der Wirtschaft, im Staat oder im Privatleben - blüht das Zeit-Kaufen und Problem-Verschieben. Man denke an die Dauerbaustelle „Schule“, an das Faß-ohne-Boden „Energiewende“, an die EZB-Geldpumpe zur unendlichen Streckung der Schuldenkrise et cetera. Überall gibt es inzwischen ein zahlreiches Milieu, für das diese Situation zur Existenzgrundlage geworden ist, von der sie bestens leben und sich noch eine höhere Moral an die Brust heften können. Mit der Migrationskrise kommen die Probleme nun drängender ins Land, aber schon wird mit dem Türkei-Deal und der Fata Morgana „Integration“ eine neue unendliche Baustelle eröffnet.
Nein, der Merkelismus wird sich nicht von selbst erledigen. Dies Spiel ist erst aus, wenn das selbstherrliche Milieu, das ihn trägt, entzaubert ist.
 

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